Publikationen zur DDR-Geschichte, Flucht und Fluchthilfe

Publikationen

Wege durch die Mauer

Bisherige Veröffentlichungen (außer den medizinischen):

  • 2009
    "Berlin, Gleimstraße", in: Ines Geipel , Andreas Petersen (Hg.), "Black Box DDR“, Marixverlag
  • 2010
    Uwe Johnson: "Ich wollte keine Frage ausgelassen haben", Suhrkamp Verlag (hg. von Burkhart Veigel ).
  • 2011
    "Wege durch die Mauer – Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West", Edition Berliner Unterwelten im Ch.Links Verlag, 2011,
    5. Auflage September 2019
  • 2018
    "FREI", zusammen mit Roswitha Quadflieg, ein Roman über Fluchthilfe und die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Europa Verlag
  • 2019
    "Berlin holt mich ein", in: Freya Klier (Hg.), "Und wo warst du?", Herder Verlag

5. Auflage Wege durch die Mauer:

Die 5. Auflage enthält jetzt über 100 neue, z.T. noch nie gezeigte Bilder zu den Themen Mauerbau, Folgen der Mauer, "Frieden Ost" und "Frieden West" etc., Bilder, die nur indirekt mit dem Thema Fluchthilfe zu tun haben. Große Teile dieser Auflage habe ich neu geschrieben. Dadurch ist das Buch jetzt 624 Seiten stark und kostet - auch wegen der Fadenheftung - 25.-€.

Frau im Cadillac
Nachgestelltes Bild eines umgebauten Cadillac mit einer Mitarbeiterin der Stasi im Versteck im Armaturenbrett. Der „Strick“ dient nicht zum Festbinden; es handelt sich um den Gürtel zum Kleid.

Ergänzungen zum Buch „Wege durch die Mauer“

Hier werden die 15 Fluchtversuche der beiden Ehepaare Schulze und Liedtke im Detail geschildert, die im Wege-Buch aus Platzgründen sehr kurz gefasst werden. Die Ergänzung beginnt in der 5. Auflage auf S. 164 unten ff. Ich bewundere die Energie und den Durchhaltewillen der Ehepaare, die alles in Bewegung setzten, um ihrer Heimat - und damit diesem Staat und seinem Regime - zu entkommen. Erst der 15. Fluchtversuch klappte!

Genau an diesem Segel-Wochenende wurde die Grenze »dichtgemacht«! Jetzt waren alle Zukunftspläne - ein erfülltes Leben im Westen - gefährdet. Hans und Gerda schickten den Bruder nach Hause und begannen ihre Suche nach einem Fluchtweg, sofort, noch am 13. August, an der Grenze im Norden Berlins, bei Lübars (1). Die Gegend kannten sie von früheren Spaziergängen. Sie fanden aber keinen Durchschlupf durch die Stacheldraht-Verhaue und die Kette schwerbewaffneter Grenzer, teilweise mit Hunden.

Wie viele andere Fluchtwillige fuhren sie am gleichen Tag noch einige Male mit der S-Bahn von der Schönhauser Allee nach Pankow und zurück (die Gleise verlaufen hier eine ganze Strecke direkt an der Grenze entlang). Sie wollten prüfen, ob sie vielleicht in einer der Kurven, in denen die Züge langsamer fahren mussten, auf der dem Westen zugewandten Seite des Wagens abspringen könnten (2). Aber die Bahn fuhr zu schnell, als dass man das hätte riskieren können. Außerdem wusste niemand, wo die Grenze auf dem Bahngelände genau verlief. Lag man, wenn man verletzt liegen blieb, im Osten oder im Westen?

Der gesamte Bahndamm, der schon bei den Fluchten durch die Esplanade eine Rolle gespielt hatte, war Ost-Gebiet, auf dem Stacheldrahtrollen lagen.
Schon am nächsten Tag fuhr diese Bahn nicht mehr, vermutlich, weil doch der Eine oder Andere dort abgesprungen war.

Die nächste Idee, die sie hatten, war, durch die Panke im Bürgerpark zu flüchten (3); die floss unter einem S-Bahn-Gelände hindurch in den Westen. Aber ständig patrouillierten hier, schon tagsüber und in die beginnende Nacht hinein, Vopos mit Hunden. Auch hier gab es kein Schlupfloch für sie.

Zuletzt fuhren sie an diesem 13. August noch zum Bahnhof Friedrichstraße. Ost-Berlinern war der Zutritt zum Bahnsteig Richtung West-Berlin jetzt aber verwehrt. Sie kamen nur auf den anderen Bahnsteig, von dem aus die Züge in den Osten abgingen. Sie standen dann in ihrer S-Bahn sogar direkt neben einer West-S-Bahn. Hier hätte man die jeweils „falschen“ Türen öffnen und hinüberspringen können, dachten sie (4). Aber ohne einen Helfer, der die andere Türe öffnete, ging das nicht.

Auf diese Weise sind tatsächlich einige Fluchten geglückt. Deshalb wurde schon am 14. August 1961 zwischen den beiden Gleisen eine Wand gebaut.

Nach den frustrierenden Erfahrungen dieses Tages fuhren sie erschöpft und deprimiert nach Hause. Aber eines schafften sie noch: Sie telegraphierten an Gerdas Cousin in West-Berlin, ob er sie nicht besuchen könne. Als er am nächsten Abend kam, wollten sie ihm Passbilder mit nach drüben geben. Die könne vielleicht jemand in einen entsprechenden West-Berliner Ausweis montieren, meinten sie, und wenn er die fertigen Ausweise wieder in den Osten scvhmuggelte, könnten sie damit flüchten. Denn wenn der Cousin ohne Probleme herüber und wieder hinüber reisen konnte, musste das mit einem ganz normalen West-Berliner Ausweis ja auch für sie möglich sein (5). Aber der Cousin, ein Stadtrat in West-Berlin, wollte sich erst erkundigen, ob das überhaupt erlaubt sei. Er war nicht davon abzubringen, dass man einen Ausweis nur fälschen könne, wenn er einem gerade Verstorbenen gehört hatte. Auch diesen Versuch mussten sie ergebnislos abhaken.

Am Montag, am 14. August, gingen beide wie gewohnt zur Arbeit. Abends, nachdem der rechtschaffene Cousin gegangen war, sahen sie, dass die Fenster bei Schulzes offen standen. Die waren aus ihrem Urlaub sofort nach Hause, nach Ost-Berlin, zurückgekehrt, als sie von der Schließung der Grenze gehört hatten. Und Schulzes waren ihrerseits überrascht, Liedtkes anzutreffen, denn die wähnten sie nach ihrer üblichen Sicherheits-Übernachtung in West-Berlin bereits im Westen.

Jetzt berieten sie gemeinsam, wie und wo sie vielleicht flüchten könnten. Am 17. September 1961 sollten ja Kommunalwahlen sein, und wer da nicht freiwillig ins Wahllokal kam, wurde üblicherweise von FDJlern oder Parteileuten von zu Hause abgeholt. Die Mutter von Gerda war aber schon am 11. August nach West-Berlin gefahren. Wenn irgendjemand sie suchen würde, spätestens in einem Monat während der Wahl, würde auffallen, dass sie gar nicht mehr da war – und dass Liedtkes das nicht gemeldet hatten. Sie mussten deshalb schnell handeln.

Noch in der gleichen Nacht gingen die beiden Liedtkes los, um die Gegend nördlich der Charite auszukundschaften (6). Hinter dem Naturkunde-Museum schlichen und robbten sie im Licht der dortigen Poliklinik (dem heutigen Bundeswehrkrankenhaus) an einem Sportplatz vorbei (auf dem Gelände steht heute die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes) zu einem mächtigen und teilweise zugewachsenen Kanal mit einem kleinen Bach, der sich aus der Panke bereits im Westen abgezweigt hatte. Vielleicht war es möglich, am Grund des Grabens einfach hinüber nach West-Berlin zu kriechen.

Die Panke

Der „Bach“ war die Süd- oder Stadtpanke, die eigentliche frühere Panke. Sie ist heute trockengelegt. Lediglich die Mündung in die Spree am Schiffbauer Damm ist noch deutlich zu sehen. Das, was heute als Panke bezeichnet wird, ist eigentlich der Schönhauser Graben, der schon früher großenteils künstlich angelegt worden war.
Der Kanal ist so groß, weil in ihm die frühere Panke mit ihrem gesamten Wasser fließt.
Die eigentliche Panke querte die Grenze unter dem Grenzübergang Chausseestraße.

Gerda versteckte sich im Gebüsch, während Hans sich Richtung Wedding nach Westen vorarbeitete. Kurz danach, etwa auf der Hälfte zwischen dem Sportplatz und der erleuchteten Grenze, kam er an ein Rohr, aus dem das Wasser des Bachs herausfloss. Da er aber ohne Taschenlampe da nicht hineinkriechen wollte, kehrte er um. Dabei glitt er aus und schnitt sich an einer Scherbe tief in die Hand. Als er so zu seiner Frau zurückkam, brachen sie ihre Bemühungen für diesen Tag sofort ab, um möglichst rasch nach Hause zu kommen, sich umzuziehen und noch nachts in eine Klinik zu gehen.

Da die Wunde stark verschmutzt war und sich entzündete, schwoll die Hand von Hans massiv an. Deshalb wurde er vom behandelnden Arzt krankgeschrieben. Der dicke Verband und seine Schmerzen behinderten ihn zwar, er hatte jetzt aber den ganzen Tag Zeit, um nach einer neuen Fluchtmöglichkeit zu suchen. Als er dabei noch einmal tagsüber das Terrain der letzten Nacht untersuchte, stellte er fest, dass die Entfernung von der Stelle, an der er gestanden haben musste, bis zu Grenze noch ziemlich groß war. Ob sie zu Viert durch ein so langes Rohr durchkämen, bezweifelte er. An dieser Stelle wollte er jedenfalls keinen weiteren Versuch starten.

Das war auch gut so, denn das Rohr ging nicht unter der Grenze durch, sondern endete schon nach einer kurzen Strecke, noch weit vor der Grenze, in einem nur 40m langen Graben, bevor wieder ein neues Rohr begann, das dann bis in den Westen reichte. Wenn ein Flüchtling überhaupt so weit gekommen war, konnte er von den Grenzern an diesem kurzen offen Teilstück einfach abgeholt werden. In das dahinterliegende lange Rohr, das die Grenze unterquerte, kam kein Flüchtling hinein.

Als er dann an seiner Arbeitsstelle vorbeischaute, um seine dick verbundene Hand zu zeigen, meinte ein Kollege gleich: „Wohl in den Stacheldraht gefasst!?“ Weitere Schlussfolgerungen zog er aber nicht. Als Hans das seiner Frau und seinen Freunden erzählte, plädierten die dafür, einige Tage nichts zu unternehmen, was irgendwie Verdacht erregen könnte.

Die nächste Idee war dann, die Mauer an der Charite zu übersteigen und durch den Humboldt-Hafen zu schwimmen (7). Sie hatten sich schon Strickleitern gebastelt, um über die hohe Mauer zu kommen. Da hörten sie in den West-Nachrichten, dass im Humboldt-Hafen ein Flüchtling erschossen worden sei. Sie brachen deshalb alle weiteren Bemühungen an dieser Stelle ab.

Günter Litfin

Günter Litfin war der erste Flüchtling, der an der Mauer erschossen wurde: Als er durch den Humboldt-Hafen in den Westen schwimmen wollte, tötete ihn am 24. August 1961 ein Transport-Polizist mit gezielten Schüssen.
Die Trapos hatten von Anfang an scharfe Munition, im Gegensatz zu den martialisch auftretenden Betriebskampfgruppen: Die bewachten zwar die neue Grenze augenscheinlich, erhielten aber erst nach diesem „Vorfall“ scharfe Munition.

Am Sonntag darauf, am 27. August 1961, fuhren die beiden Männer noch einmal in den Norden, nach Glienicke-Nordbahn. Hans kannte hier die Wege nach Lübars und Hermsdorf im Westen noch von früher. Vor allem wusste er, dass in dem sumpfigen Gelände dort kein Pfosten und deshalb auch kein Zaun halten würde (8). Tagsüber und aus größerer Entfernung konnten sie tatsächlich auch nichts erkennen, was nach Zaun, Grenze und Kontrolle aussah. Als sie aber in der Dämmerung näher an die Grenze heranrobbten, sahen sie mit ihrem mitgebrachten Fernglas, dass dort immer noch sehr viele Vopos, teilweise mit Hunden, patrouillierten. Und die Vorstellung, mit ihren Frauen zusammen von Hunden gejagt zu werden, selbst wenn kein Zaun die Flucht behindert hätte, machte ihnen doch Angst. Da wollten sie lieber eine bessere Möglichkeit suchen.

Hier flüchteten am 28. September 1961 Joachim Rudolph (der „Kleene“) und Manfred Krebs (der „Lange“) von Schildow nach Lübars, trotz Wachturm, Grenzern und Hunden.
Die beiden, voran Achim Rudolph, wurden kurz darauf zu Fluchthelfern, vor allem zu sehr aktiven Tunnelgräbern. 

Bei ihrer nächsten Besprechung überlegten sie, ob sie nicht über einen der Abwasser-Kanäle zwischen Ost und West flüchten könnten. Aber wie sollten sie feststellen, welche Rohre groß genug waren, um sich darin fortzubewegen? Und welche verliefen von Ost nach West? In welche konnte man einsteigen, ohne dass das auffiel? Weil sie keine Ahnung vom Berliner Abwasser-System hatten und weil die Kanaldeckel nördlich vom Schwimmbad Pankow, in der Straße „Am Schlosspark“, direkt auf die Grenze zuliefen, entschieden sie sich für diese Kanalisation, obwohl der Einstieg sehr weit weg von der Grenze lag. Da kämen sie aber wenigstens ungesehen hinein; dann müssten sie eben einige Stunden in den Röhren nach Westen kriechen.

Nachdem sie sich tagsüber grob orientiert hatten, zogen alle Vier Anfang September nachts mit Taschenlampen, Stadtplan und Kompass los (9). Sie hatten ihren Untermieter, einen Studenten der Zahnmedizin, Klaus Müller, eingeweiht und ihn gebeten, den Deckel hinter ihnen wieder zuzuziehen. Der Kanal war aber so eng, dass sie darin nur auf allen Vieren vorwärts rutschen konnten. Deshalb stiegen sie gleich wieder aus, um sich für die folgende Nacht Knieschoner zu nähen, und Hans wollte sich einige Plastik-Tüten besorgen, um den Verband an seiner Hand trocken zu halten.

Klaus Müller und seine Flucht

Klaus Müller, der Untermieter, wollte vor seiner fest geplanten Flucht aus der DDR noch sein Physikum machen. Nachdem er das im Frühjahr 1962 geschafft hatte, plante er seine Flucht zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder, die beide in West-Berlin lebten. Da er ein guter Schwimmer war, wollte er in den Westen tauchen, in irgendeinem Gewässer Berlins.
Er hatte gehört, dass die Grenzer Flüchtlinge an den aufsteigenden Luftblasen orten konnten und sie dann mit langen spitzen Stangen unter Wasser abstachen. Deshalb hatte er den Plan, es mit einem geschlossenen Kreislauf-Tauchgerät zu versuchen, das keine Luftblasen abgab.
Die gesamte Ausrüstung dafür stand in der DDR auf einem Stasi-Index; d.h., es war völlig unmöglich, auch nur Teile davon im Osten zu kaufen. Deshalb brachten seine Mutter und sein Bruder alles in Einzelteilen aus West-Berlin mit. Die Sauerstoff-Flaschen z.B. strichen sie rot an und gaben sie als Auto-Feuerlöscher aus. Gerade die mussten mehrfach ersetzt werden, weil Klaus sie in den brandenburgischen Seen beim Üben verbrauchte.
Er hatte festgestellt, dass er an die Grenzgewässer gar nicht herankam. Da heckte er einen tollkühnen Plan aus: Im Herbst 1962 stieg er nachts an der Reinhardtstraße in die Panke und ließ sich dort, wo sie verrohrt war, durchspülen in die Spree. Dass das funktionieren würde, hatte er mit einigen Stücken Holz vorher ausprobiert. Aus der Öffnung am Schiffbauer Damm tauchte er gleich ab in die Spree. Das beobachtete niemand. Als er aber einmal zur Orientierung kurz auftauchte, sahen ihn die Grenzer und schossen sofort auf ihn. Das merkte er aber gar nicht, weil er schon wieder abgetaucht war. Er tauchte dann die ganze Spree entlang bis ans westliche Kronprinzenufer (dem heutigen Ludwig-Erhard-Ufer) und stieg erst dort aus dem Fluss. Dass auf ihn geschossen worden war, erfuhr er erst von den West-Polizisten, die ihn in Empfang nahmen.
Später wurden an dieser Stelle Fangnetze in die Spree gebaut, die eine weitere derartige Flucht unmöglich machten.

Am nächsten Tag wollten die Vier in dem engen Rohr etwas weiter vordringen. Es hatte nicht geregnet, sodass der Kanal wie in der Nacht zuvor einigermaßen trocken war. Sie verabschiedeten sich von dem Zahnmediziner, wollten noch dessen Grüße in West-Berlin ausrichten – und krochen los. Aber der Kanal wurde immer enger und enger, und außerdem merkten sie, dass er nicht, wie sie gedacht hatten, geradewegs Richtung Wollankstraße in die Freiheit führte, sondern etwa unter der Kavalierstraße immer weiter nach Süden. Als sie aus den Geräuschen von oben schließen mussten, dass sie jetzt in der Nähe des S-Bahnhofs Pankow waren, gaben sie auf. Aber schon alleine das Umdrehen war in dem engen Kanal fast nicht möglich, vor allem für die etwas kräftigere Waltraud Schulze. Als sie wieder an ihrem Einstiegs-Gully angekommen waren, stellten sie fest, dass sie ihn ohne Hilfe von außen nicht öffnen konnten.

Das war der absolute Tiefpunkt ihrer so hoffnungsvoll begonnenen Fluchtversuche, eingeschlossen in einer engen Röhre zwei Meter unter der Erde! Sollten sie sich durch Klopfen am Deckel bemerkbar machen? Aber das wäre der sicherste Weg ins Gefängnis gewesen. Da waren sie einer Panik nahe.

Sie rutschten weiter zu den nächsten Gullys und versuchten bei allen, den Deckel wegzudrücken, was ihnen aber nicht gelang. Inzwischen führte der Kanal Richtung Norden. Da keimte wieder Hoffnung auf, denn dort hinten musste doch irgendwo die Panke fließen. Und dort könnten sie vielleicht aus ihrem Rohr entkommen, ohne einen Deckel heben zu müssen. Und tatsächlich: Der Kanal mündete neben einer kleinen Fußgänger-Brücke direkt in die Panke.

Aber auch da konnten sie nicht einfach aussteigen: Der Eingang und die ganze Gegend standen im hellen Licht. Sie wussten sofort, weshalb: Sie waren unter den Schlosspark Niederschönhausen gekrochen, fast unter das Schloss, in dem der Staatspräsidenten residierte. Sie rutschen direkt in die Panke und krochen dort ganz langsam – um kein Geräusch zu machen – in Richtung Osten. Erst 300 Meter weiter kletterten sie heraus auf eine Straße.

In den folgenden Nächten stiegen sie in der Nähe der Grabbeallee im Bürgerpark drei Mal von der Panke aus in die dortige Kanalisation ein (10). Da auch diese Kanäle nicht in den Westen führten, wollten sie ihr Glück jetzt im Süden Ost-Berlins versuchen. Um die Deckel dort besser heben zu können, schmiedeten sie sich im heimischen Kohleherd (!) eiserne Deckelheber (dabei durfte sich kein Rauch entwickeln, den man von außen hätte sehen können, denn im Hochsommer heizt ja niemand seinen Ofen!). Weil Gerda Liedtke täglich morgens zur Arbeit musste, wollten die Männer die nächsten Versuche aber alleine unternehmen.

Waltraud und Ulrich Schulze hatten keine Arbeit, und Hans Liedtke war krankgeschrieben.

Am Baumschulenweg bei Treptow kamen sie nicht weiter, weil der Kanal dort nicht durchlüftet war, die Faulgase im Kanal standen und ein Atmen unmöglich machten (11). An der Kiefholzstraße mussten sie wegen der Unübersichtlichkeit des Geländes umkehren, ohne eingestiegen zu sein (12), und in der Heidelberger Straße (13) hatten sie eine sehr unangenehme Begegnung:

Die Häuser standen hier so dicht, dass sie kaum eine Chance hatten, ungesehen irgendwo einzusteigen. Als sie dann trotzdem mitten in der Nacht einen Kanaldeckel anhoben, um wenigstens nachzusehen, ob der Kanal überhaupt groß genug war, kam ein Mann quer über die Straße, direkt an ihnen vorbei. Er verzog aber keine Mine und ging einfach weiter. Entweder wollte er nichts sehen, oder vielleicht dachte er auch, dass da nächtens die Stasi am Kanal arbeitete. Ulrich und Hans waren wie paralysiert. Da raunten sie sich zu: „Wenn der versucht hätte, uns zu stellen: Hättest Du ...?“ „Ja, ich hätte zugeschlagen, um wegzukommen“. „Und wenn der tot gewesen wäre?“ „Ja ...“ Zum Glück ist aber nichts passiert!

Durch die lange und zermürbende Suche nach einem Fluchtweg mit so vielen Fehlschlägen wurden die Vier im Lauf der Zeit immer weniger wählerisch, was die Fluchtart betraf, aber auch immer aggressiver gegenüber diesem Staat und seinen Repräsentanten, die sie gefangen hielten.

Auch ihr Versuch, vom Spreekanal, vom südlichen Bogen aus, in drei Rohre einzusteigen (14), scheiterte, weil alle – um die U-Bahn dort zu unterqueren – einen sog. Düker hatten, in dem das Wasser bis zur Decke stand. Ulrich Schulze tauchte da hinein, musste aber immer nach kurzer Strecke wieder umkehren, weil er keinen Luftschacht nach oben fand.

Bei ihren Streifzügen in der Gegend des Spittelmarkts hatten sie dann südlich der U-Bahn die großen Trümmerfelder gesehen, die noch vom Zweiten Weltkrieg übrig geblieben waren. Wenn sie hier eine Kanalisation finden würden, könnten sie in dieser gottverlassenen Gegend zumindest ungesehen einsteigen. Und ein solcher Kanal müsste eigentlich in den Westen hinüber führen. Das sah gut aus, da keimte die Hoffnung in ihnen, noch in der Nacht des 11. September 1961 flüchten zu können. Deshalb kamen dieses Mal gleich ihre Frauen mit (15).

Öffnung des Fluchtwegs

Der Rest dieses Flucht-Marathons steht im Buch. Mit ihrer geglückten Flucht öffneten die beiden Ehepaare einen phantastischen Fluchtweg für etwa 500 andere Flüchtlinge.

Rezensionen

Rezensionen des Buchs „Wege durch die Mauer – Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West“

"Fluchthilfe ist ja ein Mischkonzern: Man kann in der Erde (Tunnelbau) tätig werden, als Passfälscher, Hochseilartist oder Taucher. Veigel, der das ganze illustre Panorama dieser schwarzen Künste überschaut, lässt den Leser an allem teilhaben. Veigel und seine Kommilitonen von der Freien Universität Berlin haben sich in den sechziger Jahren so viele kluge Gedanken zur Psychologie (und Psychopathologie) des DDR-Grenzwächters gemacht, dass sie mühelos in der geheimen stasieigenen Hochschule im »Fachgebiet Operative Psychologie« (das gab es) zum Doktor hätten promovieren können.
Der Autor ... hat ... sorgsam Buch geführt. Ausgaben, Einnahmen, Codeworte, Daten. ... Das macht das Buch nicht nur unterhaltsam, sondern vor allem auch verlässlich. ... Es wird nicht nur der Stasimann beim Namen genannt – und zwar beim Klarnamen! – sondern auch der Flüchtling. Schwärzungen gibt es nicht.
Auch beim Kampf gegen die Flucht ihrer Bürger war die DDR um Weltniveau bemüht. Für Burkhart Veigel – allein auf sein Konto kommen 650 gelungene Fluchten – ... hatte sich die DDR-Justizministerin Hilde Benjamin schon 1962 eine Strafe ausgedacht: Gerichtsverhandlung, Todesurteil, Vollstreckung durch einen »unerwarteten Nahschuss in den Hinterkopf«. Aber auch die »Rote Hilde« liquidierte niemanden, es sei denn, sie hätte ihn. Veigel ist immer noch ganz munter, Hilde Benjamin ist tot."
Hans Halter in der Süddeutschen Zeitung vom 3.10.2011

"Burkhart Veigel hat hunderte DDR-Bürger über die am besten gesicherte Grenze der Welt geschleust: Hinter dem Armaturenbrett eines Cadillacs, durch Tunnel und mit falschen Identitäten direkt unter den Nasen der Grenzer. Die Stasi versuchte ihn zu entführen, die DDR-Justizministerin wollte seinen Tod. Es ist die Geschichte eines schwäbischen Medizinstudenten, der zu einem der erfolgreichsten deutsch-deutschen Fluchthelfer wurde. Ohne seine Abgebrühtheit hätte er es vermutlich nicht geschafft, den riesigen DDR-Sicherheitsapparat, die Staatssicherheit (Stasi), hunderte von Male aufs Kreuz zu legen. Veigel ist allerdings auch nicht der Typ, der sich dafür auf die Schulter klopft: »Ich wollte den Menschen helfen, ich fühlte aber auch die Pflicht dazu. Und wenn man ständig in Gefahr lebt, kann man sich auch an die Gefahr gewöhnen.«
Burkhart Veigel hat die Geschichte der Fluchthilfe aufgeschrieben."
t-online.de, 12. August 2011

"Der Wahnsinn der deutschen Teilung zeigte sich auch in den findigen Tricks der Fluchthelfer. Burkhart Veigel war einer von ihnen. In seinem Buch schildert er faktenreich und spannend verschiedene Fluchtwege durch die Mauer.
Die Spitzel und Häscher der Stasi bedrohten Burkhart Veigel immer wieder. Er entkam zwei Entführungsversuchen und besiegte die Stasi auf seine Weise: mit humanitärer Hilfe für die eingesperrten Menschen in der DDR. Ein Muss für alle, die diese Zeit miterlebt haben, aber auch für jüngere Leser ...!"
Petra Bohm bei Orell.Füssli, Schweiz, am 12.11.2011

"Burkhart Veigel hat eine »reflektierte Innenansicht« der Fluchthilfe geschrieben."
Eberhard Diepgen in seiner Laudatio, 18. Juli 2011

"Diese bislang kaum beachtete Form oppositioneller Arbeit verdient höchsten Respekt. Im Nachhinein kann Burkhart Veigel sagen: Es hat sich gelohnt! Was für eine Leistung und Umsicht dieses Mannes!"
Udo Scheer in Kommune 6/11 und Die politische Meinung Dezember 2011