Reflexionen über Spitzel, Ost-West-Politik

Mauertote

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(eine Recherche mit Kommentar nach der Uraufführung des Films „Wenn Tote stören – Vom Sterben an der Mauer“ von Florian Gruber, NDR, am 24.7.2007 in der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße; dabei wollte ein ehemaliger Stasi-Offizier die getöteten Flüchtlinge gegenrechnen mit den toten Grenzschützern; Erstsendung ARD 1.8.07, 22.45 Uhr; die Recherche basiert auf dem Standardwerk über die "Mauertoten" von Dr. Hans-Hermann Hertle und Dr. Maria Nooke)

Die Grenzwächter der DDR haben zwischen 1961 und 1989 eine unbekannte Zahl von Bürgern der DDR, mindestens 138, vermutlich weit über 200 Menschen, an der innerberliner Grenze, der Mauer, erschossen, mit Stangen unter Wasser aufgespießt oder angeschossen und verbluten lassen. Etwa 1.000 weitere Zivilbürger der DDR, die ihren Staat verlassen wollten, wurden in diesem Zeitraum an der innerdeutschen Grenze oder an der Ostsee umgebracht, erschossen, von Minen oder Selbstschussanlagen, die die DDR-Grenzer installiert hatten, zerfetzt, oder sie ertranken. Dazu kommen weitere etwa 250 Menschen, die durch die Grenzsicherungsmaßnahmen indirekt ums Leben kamen.

Die genaue Zahl der Mauertoten wird man nie feststellen können. Dafür haben die Grenzwächter der DDR gesorgt: In vielen Fällen wurde den Angehörigen der Toten gesagt, er/sie habe einen Unfall gehabt oder sei ertrunken; die Leiche habe man nicht finden können. In Wirklichkeit wurden viele Leichen schnellstmöglich verbrannt, sodass gerichtsmedizinische Untersuchungen nicht mehr möglich waren. Wenn trotzdem vermutet wurde, dass der Tod etwas mit einem Fluchtversuch aus der DDR zu tun hatte, wurde den Angehörigen bei Androhung entsprechender Strafen untersagt, darüber zu reden.

Darüber hinaus wurde eine große Anzahl von Bürgern der DDR schwer verletzt, als sie versuchten, die Grenze zu überwinden. Viele dieser Verletzungen waren so schwer wie Verletzungen im Krieg durch Schusswaffen und Splitterminen. Der Krieg an der Mauer – gegen die eigenen Landsleute! – hinterließ also nicht nur Tote, sondern auch eine große Zahl von Krüppeln, die ihr weiteres Leben in dieser Weise stigmatisiert weiterleben mussten.

Ca. 75 000 Menschen hat man bei einem Fluchtversuch verhaftet und zu oft langen Haftstrafen verurteilt. Da die Freikäufe durch die Bundesrepublik erst 1964 „griffen“, mussten die Verhafteten vor allem in den ersten Jahren nach dem Bau der Mauer ihre Strafe voll absitzen. „Normalerweise“ waren das 2 bis 3 Jahre, wobei Beihilfe stärker geahndet wurde als eine Flucht selbst. Auch Angehörige sog. regimetreuer Kader wurden härter bestraft, Menschen also, die zunächst an den Sozialismus östlicher Prägung geglaubt hatten, aus irgendwelchen Gründen dann aber feststellten, dass in der DDR die östliche Prägung, nicht der reine Sozialismus diktiert wurde.

Man kann davon ausgehen, dass neben den ca. 4,5 Millionen Menschen, die ihrer Heimat bis zum 13.8.61 den Rücken gekehrt hatten, bis Ende 1989 ca. 280 000 Bürger der DDR aus politischen Gründen in Haft saßen (wobei Republikflucht wie all die weiteren nie juristisch wirklich nachgewiesenen Anklagepunkte wie Spionage etc. als „politisch“ gelten müssen). Auch diese Zahl wird man nie genau feststellen können, weil es offiziell in der DDR keine politischen Gefangenen gab. So saßen z.B. im Zuchthaus Bautzen II neben 650 „Politischen“ durchschnittlich auch 150 „Kriminelle“, die dann oft noch das Kommando über die Politischen führten. Allerdings waren in den Augen der DDR-Justiz alle politischen Vergehen auch immer kriminelle Verbrechen; es galt als kriminell, seine Heimat verlassen zu wollen oder einen politischen Witz zu erzählen.

Von ehemaligen Stasi-Offizieren wird gerne gegengerechnet, dass auch viele Grenzwächter in Ausübung ihres Dienstes erschossen worden sind. Konkret sind nach dem Bau der Mauer genau 8 Grenzer vom Westen aus angeschossen oder erschossen worden. Drei Beispiele, die zeigen, dass die Grenzer der DDR den Kalten Krieg wirklich als Krieg begriffen:

Peter Göring schoss mit seinen 3 Kameraden zusammen am 23.5.62 auf einen 14-Jährigen aus Erfurt, der über einen Kanal in den Westen schwimmen wollte. Insgesamt wurden auf den Jungen 128 Schuss abgegeben, 9 davon von Göring, 8 „trafen“. Aber der Junge schaffte es, sich trotz seiner Verletzungen – er überlebte schwerverletzt, wurde aber durch die „Treffer“ zum Invaliden – ans westliche Ufer zu retten. Da die Grenzer auch dann noch auf ihn schossen und dabei auch in den Westen hinein schossen, erwiderten 2 West-Berliner Grenzer das Feuer, um die Ost-Grenzer in Deckung zu zwingen. Ein einziger Schuss, ein Querschläger, traf Göring, leider gleich tödlich. Die West-Grenzer hatten aber so die Gelegenheit, den Jungen von der Uferböschung ans westliche Ufer zu ziehen und ihn ärztlich behandeln zu lassen.

Es war selbst in der DDR verboten, auf Kinder zu schießen. Göring wusste zum Zeitpunkt seiner Tat sicher nicht, dass er dabei war, ein Kind umzubringen. Dass er aber gegen alle Vorschriften aus seiner Deckung trat, um besser zielen zu können, dass seine Kalaschnikow-Maschinenpistole auf Dauerfeuer stand (es hätte ihn niemand bestraft, wenn er einzelne Schüsse abgegeben und die auch noch daneben gesetzt hätte), das bezeugt zumindest, dass er eine klare Mordabsicht hatte. Dafür hätte er auch in der DDR verurteilt werden müssen, und damals gab es in der DDR durchaus noch die Todesstrafe, auch für einen Mordversuch mit politischem Hintergrund.

Die Beamten, die zufällig Göring erschossen, gingen straffrei aus. Auch die 3 überlebenden Ost-Grenzer konnten – nach der Wende – nicht bestraft werden, weil nicht zu klären war, aus wessen Gewehr die „Treffer“ gekommen waren.

Reinhold Huhn wurde am 18.6.62 von einem Westberliner Fluchthelfer, Rudolf Müller, erschossen. Der Fluchthelfer hatte einen Tunnel vom Westen nach Ostberlin gegraben, um seine Familie in den Westen zu bringen. Nach der Fertigstellung holte er seine Angehörigen selbst im Osten ab. Dabei hatte er natürlich keine Ost-Ausweispapiere mit. Kurz vor dem Haus, in dem der Tunnel auf der Ostseite endete, wollte Reinhold Huhn die Papiere der kleinen Gruppe kontrollieren. Irgendetwas kam ihm verdächtig vor und er griff zu seiner Waffe. Da schoss der Fluchthelfer aus einer mitgeführten Pistole blitzschnell zweimal. Einer der beiden Schüsse traf Reinhold Huhn leider tödlich. Fluchthelfer und Flüchtlinge konnten dadurch, dass Reinhold Huhn sofort hinfiel, und in der entstehenden Verwirrung durch den Tunnel entkommen. Der Fluchthelfer sah keinen anderen Ausweg in dieser Situation kurz vor seinem ersehnten Ziel, als zuerst zu schießen. Sicher ist, dass er keine Chance gegen den schwerbewaffneten Huhn gehabt hätte, wenn er nicht zuerst geschossen hätte.
Gegen den Fluchthelfer wurde jahrelang prozessiert. Seine Tat wurde letztlich als Mord eingestuft und 1999/2000 mit einem Jahr Gefängnis (mit 2-jähriger Bewährung) bestraft.

Egon Schultz kam am 5.10.64 dazu, als die Stasi durch einen Spitzel einen Tunnel entdeckt hatte, der schon 2 Tage lang „lief“ und über den 59 Bürger der DDR in den Westen gekrochen waren. Als der Fluchthelfer im Flur der Hauses, an dem der Tunnel endete, die Gefahr erkannte, rannte er durch eine Nebentüre in den Hof und stürzte sich sofort in den Tunnelausgang auf dem Hof. Kritisch war die Lage aber für einen zweiten Fluchthelfer, der am Haupttor „Schmiere stand“: Er musste an dem Nebenausgang vorbei zum Tunnelausgang. Dabei gab er aus einer Pistole, die er dabei hatte, mehrere Schüsse in die Luft ab; die Einschläge konnte man noch lange danach in der Hauswand sehen (heute renoviert). Ein Schuss, vermutlich der letzte, traf Schultz, als der gerade aus dem Nebeneingang in den Hof rennen wollte, in die linke Schulter. Er ließ sich fallen, worauf der hinter ihm rennende Grenzer das Feuer aus seiner Maschinenpistole eröffnete. Dabei traf er Schultz mit 9 Schüssen in den Oberkörper, von denen 7 tödlich waren.

Die Stasi fälschte den Obduktionsbericht, in dem dann nichts von den Schüssen des Grenz-Kameraden stand. Der schießende Fluchthelfer stellte sich im Westen der Polizei; die Ermittlungen wurden aber eingestellt, weil der Osten die Akten nicht freigab. Der Fluchthelfer kam aber nicht damit zurecht, dass er ein Mörder sein sollte, und starb schon früh im Alkoholrausch. Erst nach der Wende wurde die Fälschung des Obduktionsberichts aufgedeckt.

Die anderen getöteten Grenzer wurden von den eigenen Kameraden oder von Sowjetsoldaten auf der Flucht in den Westen umgebracht. Der angeblich so aggressive Westen hatte damit überhaupt nichts zu tun!

Es ist schlimm, wenn überhaupt ein Mensch an einem so unmenschlichen Bauwerk zu Tode kommt. Wenn man aber schon gegenrechnen will, dann bitte doch so:

  • Es kamen an der Mauer in Berlin nachweislich etwa einhundert flüchtende Menschen um, erschossen von ihren eigenen Landsleuten, und 3 Grenzer, bei denen der Westen in irgend einer Weise beteiligt war; eine Relation, bei der sich eine Gegenrechung von selbst verbietet.
  • Die 100 waren zivile Bürger, die nur nicht in einer Spitzel-Diktatur leben wollten und mit ihrem Wunsch, die Grenze zum Westen zu überwinden, völlig legal gehandelt haben; die 3 waren Soldaten, die Gesetze befolgt haben, die von vornherein illegal waren, die sie also nie hätten befolgen dürfen (ein Schießbefehl oder die Bestrafung einer Republikflucht sind genauso illegal wie ein Kommissar-Befehl im Nationalsozialismus!).
  • Die 100 waren harmlose Zivilisten, ohne Waffen, die genauso wie die getöteten Grenzer eine Mutter und einen Vater, Geschwister und Freunde hatten; ihre Angehörigen bekamen aber im Gegensatz zu den Angehörigen der 3 Grenzer hinterher massive Schwierigkeiten, wurden geächtet, verloren ihren Arbeitsplatz und wurden massiv bespitzelt. Der Unterschied: Honecker hatte in seiner zu Herzen gehenden Grabrede für Egon Schultz bewusst seine trauernde Mutter und seinen Vater erwähnt (obwohl er das Obduktionsergebnis kannte!), und für seine Heldentat und seinen Heldentod wurden danach zahlreiche Schulen und Straßen nach Egon Schultz benannt.

Angesichts dieser Tatsachen ist die Gegenrechnung der alten Stasi-Garden wirklich absolut unerträglich!

Vielleicht interessieren sich die „Mauerschützen“ und deren Hintermänner aber auch für eine andere Statistik:

Auf Seiten der „Verteidiger“ des „antifaschistischen Schutzwalls“ gab es also 3 Menschen, die unter Mitwirkung von Menschen aus dem Westen zu Tode gekommen waren. Demgegenüber wurden aber mindestens folgende 30 West-Menschen von Ost-Grenzern erschossen oder sie ertranken, wobei die Liste möglicherweise nicht vollständig ist. Wichtig ist dabei auch, in welcher Situation diese Menschen zu Tode kamen:

4 West-Bürger, Fluchthelfer, starben bei ihrer Hilfe für andere Menschen, als sie versuchten, DDR-Bürgern zur Flucht zu verhelfen:

Der erste war Dieter Wohlfahrt, ein Westberliner Student mit österreichischem Pass, der bei zahlreichen Fluchten durch die Kanalisation 1961 die Gully-Deckel im Osten wieder geschlossen hatte, nachdem die Flüchtlinge in der Kanalisation verschwunden waren. Er wurde am 9.12.1961 an der Zonengrenze zwischen Spandau und Staaken von Grenzposten erschossen, als er eine Frau durch den Stacheldraht-Zaun in den Westen holen wollte. Wie sich später herausstellte, hatte sie den Plan an die Stasi verraten, weil sie eigentlich ihre Tochter wieder im Osten haben und nicht zu ihr in den Westen gehen wollte. Die Grenzer wussten deshalb von der geplanten Flucht und hatten schon auf den unbewaffneten Dieter Wohlfahrt gewartet. Als er beim Aufschneiden des Zauns die lauernden Grenzer bemerkte, versuchte er noch zu fliehen. Er bekam einen Schuss von hinten ins Herz, blieb im „Todesstreifen“ 2 Stunden liegen und starb, ohne dass den westlichen Polizisten erlaubt wurde, ihm ärztliche Hilfe zu leisten.

Am 27.3.1962 wurde Heinz Jercha von Stasi-Mitarbeitern erschossen. Er hatte durch einen Tunnel in der Heidelberger Straße in Neukölln mit Harry Seidel zusammen schon etwa 50 Flüchtlinge in den Westen geholt. Der Stasi-Spitzel Horst Brieger verriet den Tunnel, die Stasi legte sich auf die Lauer. Als Heinz Jercha weitere Flüchtlinge abholen wollte, schossen die Stasi-Leute sofort auf ihn. Er erhielt einen Lungensteckschuss, konnte damit noch durch den Tunnel in den Westen robben, starb dort aber noch vor dem Transport ins Krankenhaus.

Auch Siegfried Noffke hatte zusammen mit Dieter Hötger einen Tunnel von Westberlin nach Ostberlin gegraben, um – wie Dieter Hötger – seine Frau und sein Kind in den Westen zu holen. Aber auch dieser Tunnel war verraten worden. Hier kennt man den Spitzel, der auch heute noch in Berlin-Pankow wohnt: Ernst-Jürgen Hennig. Er hatte teilweise den Kontakt zwischen Dieter Hötger und dessen Frau hergestellt. Erst als Jürgen Hennig am 28.6.1962 in dem „Ost-Keller“, dem Ausstieg des Tunnels im Osten, auftauchte und Dieter Hötger deshalb annahm, dass „die Luft rein“ war, öffnete er den Ausstieg des Tunnels in den Keller ganz und stieg mit Siegfried Noffke zusammen aus. Darauf hatte die Stasi nur gewartet, weil sie den Ausstieg durch ein Guckloch, das sie in die Kellertüre gebohrt hatten, genau beobachten konnten. Ein Stasi-Mann stieß die Kellertüre auf und schoss sofort, ohne Vorwarnung. Dabei traf er Noffke tödlich; Hötger wurde schwer verletzt. Jürgen Hennig, der mit dieser Entwicklung nicht gerechnet hatte, versuchte noch, die Kellertüre wieder zu schließen, was ihm aber nicht gelang. Schwerverletzt wurden die Beiden noch von Stasi-Beamten verhört und vor allem nach ihren Waffen gefragt, die sie aber nicht hatten und die auch nicht gefunden wurden. Noffke starb auf dem Weg ins Krankenhaus, Hötger saß danach über 10 Jahre vor allem in Bautzen II. Der „durchgeknallte“ Todesschütze, der ohne jede Warnung sofort geschossen hatte, wurde nie belangt, noch nicht einmal nach der Wende.

Heinz Schöneberger versuchte am 26.12.1965, 2 Frauen in seinem Auto versteckt in den Westen zu schmuggeln. Nach der Entdeckung seiner Fluchthilfe im Kontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße versuchte er mit seinem Auto, dann zu Fuß, die Grenze zu erreichen, wurde dabei mehrfach von Schüssen der Grenzer getroffen und brach im Westen tot zusammen.

Weitere 10 Menschen kamen an der Mauer ums Leben, die größtenteils erkennbar geisteskrank, massiv alkoholisiert oder z.T. auch idealistisch überhöht, in einem Wahnzustand, die Grenze von West nach Ost überqueren wollten. Natürlich spielt dabei auch die künstlich gezüchtete Angst der Grenzposten vor Angriffen des Westens auf ihren „friedliebenden“ Staat mit. Die Grenzer wurden regelrecht „hysterisiert“, obwohl es nie einen ernstzunehmenden Angriff gegen den „antifaschistischen Schutzwall“ vom Westen gegeben hat, die ganzen 28 Jahre nicht, in denen die Mauer stand.

Der gleiche Grund, eine schon hysterische Überreaktion der Grenzer, verursachte den Tod von 2 weiteren „Westlern“: Ein Transitreisender wurde festgenommen, weil er seinen Verwandten einige Kleinigkeiten mitgebracht hatte; dabei erlitt er einen Herzinfarkt. Und ein westberliner Geschäftsmann musste sterben, weil er zufällig mit seinem Segelboot in östliche Gewässer abgetrieben war.

Warum die Ost-Grenzer aber 5 kleine Kinder aus dem Westen ertrinken ließen, die in zum Osten gehörende Flüsse gefallen waren, warum sie darüber hinaus auch 2 kleine Jungs aus dem Osten erschossen, die am Stacheldrahtzaun Ball gespielt hatten, das kann man absolut nicht verstehen. Harmlose, unschuldige Menschen, die einem künstlich erzeugten Verfolgungswahn zum Opfer fielen!

Ich trauere um ALLE Mauertoten, welcher Couleur auch immer. Schuld am Tod dieser Menschen haben aber weniger die Täter oder gar die Opfer, sondern vielmehr der Staat DDR und seine Repräsentanten in der Partei und der Stasi, die im Namen einer vielleicht guten Idee ein Unrechts- und Willkür-System errichtet und mit mörderischer Gewalt durchgesetzt haben. Es ist tragisch, dass in einer menschenverachtenden Diktatur jeder Mensch schuldig werden muss, aktiv oder passiv. Diese Schuld haben alle sozialistischen Regimes auf sich geladen! Es ist für mich deshalb in keiner Weise nachvollziehbar, dass es immer noch Menschen gibt, die diese untergegangene DDR verteidigen oder ihr nachtrauern.

Faszination

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Bernard Langfermann, welches war dein Preis?

Ein Verat und seine Folgen. Eine Reflektion über die Faszination des Kommunismus.

Einleitung

Am 30. Mai 1968 wurde, auch auf persönliches Geheiß von Walter Ulbricht, die altehrwürdige Universitätskirche und ein Teil der Universität am damaligen Karl-Marx-Platz in Leipzig gesprengt. Alle Proteste dagegen wurden gewaltsam unterdrückt.

Die Tat von 4 mutigen Menschen

Am 20. Juni 1968 fand das Abschlusskonzert des III. Leipziger Bachwettbewerbs in der Kongresshalle statt. Gerade als der letzte Festredner geendet hatte, entrollte sich wie von Geisterhand hinter ihm auf der Bühne ein fast drei Meter großes Plakat mit einer Zeichnung der ehemaligen Universitätskirche und dem Text: „Wir fordern Wiederaufbau“. Der Redner wusste nicht wie ihm geschah: Annähernd 1800 Zuhörer applaudierten jubelnd und lang anhaltend – was natürlich dem „Wunder-Transparent“ galt. Wenige Andere waren starr vor Schreck: Klaus Gysi, Minister für Kultur der DDR und Vater des späteren SED-Vorsitzenden Gregor Gysi, Walter Kresse, Oberbürgermeister von Leipzig, weitere Minister und vor allem die offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi.

Die Vorbereitung

Vier Physiker und Physikstudenten hatten das „Wunder“ vorbereitet, indem sie Holzlatten, einen Wecker und ein großes gelbes Fahnentuch kauften - alles unverdächtige Dinge -, das Tuch bemalten, den Wecker zu einem Zeitschalter umbauten und zuletzt das Wunderwerk inmitten der anderen Arbeiter bei der Vorbereitung des Festakts am Schnürboden befestigten:

  • Stefan Welzk
  • Harald Fritzsch
  • Dietrich Koch
  • Rudolf Treumann

Der Verrat

Noch Ende Juli 1968 gelang Stefan Welzk und Harald Fritzsch die Flucht mit einem Faltboot über das Schwarze Meer in die Türkei. Die Stasi brachte ihr Verschwinden aber nie in Zusammenhang mit dem „Attentat“ während des Bach-Festes, bis ihr ein Zufall – der Verrat eines jungen Wahl-Berliners – zu Hilfe kam.

Nach seiner Flucht nahm Stefan Welzk wieder Kontakt zu Bernard Langfermann auf, den er 1964 beim Pfingsttreffen der FDJ in Ost-Berlin kennen gelernt hatte. Dieser junge Westdeutsche begeisterte sich schon seit seiner Kindheit für linke Ideen; jetzt studierte er Politologie in West-Berlin. Durch die häufigen Besuche Langfermanns in Ost-Berlin hatte sich zwischen den beiden jungen Männern eine Freundschaft entwickelt. Langfermann genoss es, neben allem Diskutieren linker Ideen jetzt einen echten Ost-Freund zu haben, und für Welzk war es ein Geschenk des Himmels, dass er einen direkten Kontakt nach drüben hatte. Langfermann schmuggelte seitdem auch immer wieder kritische Literatur, die in der DDR verboten war, zu Welzk in den Osten.

Schon beim ersten Treffen nach der Flucht erzählte Stefan Welzk Bernard Langfermann von seinem Abenteuer beim Leipziger Bachfest, von seiner Flucht, aber auch von seinen Fluchthilfe-Bemühungen für einige seiner Freunde – und Langfermann schmuggelte weiter, zusammen mit Hans-Wilhelm Kraus, einem anderen Helfer, Bücher und Botschaften nach Ost-Berlin, jetzt zu den Freunden von Stefan Welzk.

Ab April 1969 wurde Langfermann dann Mitherausgeber der „Sozialistischen Politik“, einer studentischen Zeitschrift in West-Berlin, in der die linke „Szene“ zunehmend verwirrter und unverständlicher linke Ideen diskutierte. Unter dem Eindruck dieser Diskussionen fand bei Bernard Langfermann wohl eine Art Persönlichkeitsveränderung statt. Jedenfalls ging er am 6. Januar 1970 von sich aus zur Stasi in Ost-Berlin und verriet alles:

  • seinen Freund Stefan Welzk
  • die Hintergründe des Vorfalls beim Bachfest
  • den Namen von Dietrich Koch (den von Rudolf Treumann kannte er nicht)
  • die Namen der Fluchtwilligen
  • die Namen der Teilnehmer an den Lesezirkeln
  • den Namen von Hans-Wilhelm Kraus

Kurz darauf wurde aus Bernard Langfermann der IM „Boris Buch“. In dieser Funktion spitzelte er noch jahrelang weiter für die Stasi. Wie es dazu kommen konnte, dass ein junger Mensch, der über Jahre hinweg Bücher und Zeitschriften in die DDR schmuggelt und damit kritische Menschen dort unterstützt, Spitzel der Stasi wird, ist und bleibt unbegreiflich, auch wenn man berücksichtigt, dass Langfermann ständig in einem Milieu linker Ideen lebte. Ideen zu diskutieren und berufsmäßig andere Menschen zu verraten, sie ans Messer zu liefern, sind ja doch zwei völlig unterschiedliche Lebensformen.

Die Folgen

  • Dietrich Koch wurde zu 2½ Jahren Zuchthaus und zur anschließenden Zwangsunterbringung in einer psychiatrischen Anstalt verurteilt – wegen seiner „erheblichen Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“. 1972 wurde er von der Bundesregierung freigekauft.
  • Die Fluchtwilligen erhielten Zuchthaus-Strafen von bis zu 5½ Jahren. Sie wurden zwischen 1972 und 1976 freigekauft.
  • Die Teilnehmer an den Lesezirkeln erhielten Strafen von bis zu 6 Jahren. Über ihren weiteren Lebensweg ist mir nichts bekannt.
  • Hans-Wilhelm Kraus wurde zu einer „hohen Freiheitsstrafe“ verurteilt. In der Haft wurde er zum Spitzel gepresst und bereits nach einem Jahr entlassen. Wieder im Westen, offenbarte er sich dem Verfassungsschutz. Von der Stasi wurde er nicht mehr behelligt.

Warum?

Man kann es sich einfach machen und Langfermann zu einem Charakterschwein erklären. Aber er war ja nicht der Einzige, der ohne Not und ohne Zwang zum Verräter wurde. Sicher gab es auch die, die als Spitzel große Summen kassierten und sich damit ein angenehmes Leben machten, und die, die sich wichtig fühlten als „Retter des Weltfriedens“. Aber viele waren eben auch wie Langfermann Überzeugungstäter, überzeugt vom Kommunismus, den man auf jede erdenkliche Art unterstützen müsse.

Was hat vor allem junge Menschen über Jahrzehnte am Kommunismus fasziniert? Weshalb erklärten sie die Verbrechen Stalins und Maos für notwendige Kollateralschäden auf dem Weg zum Sozialismus? Konnten oder wollten sie nicht sehen, was offen zutage lag, dass alle kommunistisch beherrschten Staaten ohne Ausnahme menschenverachtende Diktaturen waren, weit weg von jeder Mitbestimmung des Proletariats? Und was trieb Menschen an, die im Westteil Berlins und Deutschlands frei denken und reden konnten – ganz im Gegensatz zu den Menschen in den Staaten, die sie idealisierten – , sich dem Regime in der DDR als Spitzel anzudienen?

Wollten oder konnten sie nicht zur Kenntnis nehmen, dass es generell keine umfassende Gleichheit und Gerechtigkeit geben kann, so ungleich wie wir geboren sind, und dass es deshalb für ein Zusammenleben wichtig ist, Minderheiten zu schützen, keine Gleichheiten mit Gewalt herzustellen? Waren sie so naiv, zu glauben, dass ein Satz wie „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ je Wirklichkeit werden könnte? Oder waren sie blind für die Realitäten der Biologie, wenn sie hofften, einen neuen Menschen erziehen zu können, hin zu einer allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit?

Für die Beurteilung der Fakten spielen diese Überlegungen keine Rolle, weil jeder die Verantwortung für sein Denken und Tun übernehmen muss, egal ob er im strafrechtlichen Sinn schuldig wurde. Deshalb muss Bernard Langfermann auch heute noch die Verantwortung dafür übernehmen, dass er über 150 Menschen ins Unglück stürzte, dass er 11 von ihnen den Boden unter den Füßen wegzog und dass sich zwei Menschen in ihrer durch ihn verursachten Verzweiflung das Leben nahmen.

Aber Bernard Langfermann hat sich nie bei einem seiner Opfer entschuldigt und auch sonst nie Reue gezeigt, vor allem keine tätige Reue.

Stellvertretend für alle NICHT wohlgemuten Ahnungslosen möchte ich hier das unerschrockene und mutige Handeln von Annerose und Karlheinz Niendorf herausstellen, die nach dem Verrat von Langfermann festgenommen und zu je 5½ Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Das Geständnis ihrer Fluchtpläne erpresste die Stasi während der 18-monatigen Verhöre durch die Drohung, ihre beiden einjährigen Zwillinge zur Adoption auszuschreiben.

Annerose Niendorf wurde während ihrer Haft so beurteilt: „ ... tritt sie weiterhin mit ihrer aufwieglerischen Ideologie in Erscheinung, ... ideologische Zersetzungstätigkeit muss erwartet werden, ... muss als Staatsfeind eingestuft werden, obwohl sie versucht, sich loyal zu geben. Vorsicht geboten. ... Würde Ausweisung nutzen, aber nur, wenn sie ihre Kinder mitnehmen kann.“

Karlheinz Niendorf schrieb am 15.2.1972, nach seiner Verurteilung und nachdem seine Schwiegermutter das Sorgerecht für die beiden Kinder erhalten hatte, folgende Stellungnahme an die Stasi:
„Ich war ein Feind dieses scheinsozialistischen Staates und wollte mit meinen Handlungen zu einer progressiven Veränderung und Demokratisierung beitragen, sowie Menschen helfen, die unter diesem System litten, und selbst diesen Staat verlassen. Ich bedauere außerordentlich, dass ich vorübergehend den psychologisch raffinierten Vorspiegelungen und Täuschungen der Untersuchungs- und Justizorgane erlegen war und in meiner Verblendung an einen fairen Prozess und eine Chance für mein weiteres Leben in diesem Staat geglaubt hatte. Doch im Verlauf des Verfahrens gegen mich kam ich schrittweise zur Ernüchterung über die wahre Natur dieses Staates und der ihn kennzeichnenden Justizmaschinerie. Die konstruierte Anklage, die darauf folgende Prozessfarce und das gegen mich und meine Frau ausgesprochene Terrorurteil haben mir gezeigt, dass meine früheren staatsfeindlichen Auffassungen voll berechtigt, ja in vieler Hinsicht noch zu gemäßigt waren. Ich bin nunmehr ein unversöhnlicher Feind dieses Systems, denn ich habe die „Folter der Hoffnung“ durchlaufen, die letzte Krise eines Menschen vor einer endgültigen und unwiderruflichen Entscheidung. Dieser Staat hat mich zum Schwerverbrecher gestempelt und ich nehme diese Rolle an, es ist mir nunmehr eine Ehre. Ich bedauere nur, meine staatsfeindlichen Handlungen nicht konsequenter, intensiver und effektiver ausgeführt zu haben. Mit diesem Staat habe ich nichts mehr zu schaffen. ... Ich und meine Frau werden für uns und unsere Kinder die Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR und Ausweisung in die BRD beantragen. ... Nur in einer freien Gesellschaft kann unser Leben wieder zu einer Sinngebung führen, in diesem Staat jedoch nur zur Katastrophe.“

(Die Fakten und Zitate dieser Betrachtung stammen aus dem Buch von Stefan Welzk „Leipzig 1968 – Unser Protest gegen die Kirchensprengung und seine Folgen“, Leipzig, EVA 2011, und aus dem Buch von Dietrich Koch „Das Verhör – Zerstörung und Widerstand“, 3 Bände, Dresden, Hille 2000. An dem genannten Verrat war auch eine IM Inge Bender beteiligt, die von der Aktion beim Bachfest über einige Umwege gehört hatte.)

Erklärungsversuche

Unabhängig von der Verantwortung, die jeder übernehmen muss, stellt sich für mich die Frage, wie so etwas möglich war, dass Menschen kurz nach dem Ende des Nationalsozialismus die Strukturen eines totalitären Staates, einer Diktatur und eines Unrechtsstaats, in der DDR und den anderen kommunistischen Regimes nicht sahen. Trotz aller Bemühungen fand ich keine Antwort auf diese Fragen - bis ich auf ein biologisches Phänomen stieß:

Es ist erstaunlich, dass Hirnforscher und Pädagogen zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommen: Wirklich denken, autonom denken, kann man erst im Alter zwischen 25 und 30 Jahren. Der biologische Grund dafür ist die im MRT eindeutig nachweisbare sehr späte Reifung des praefrontalen Cortex (er beginnt erst mit 23 Jahren zu reifen (!); ausgereift ist er aber erst mit 25 bis 30 Jahren). Dieser Teil des Gehirns ist – etwas vereinfacht ausgedrückt – für die Kontrolle, die Unterdrückung von Impulsen, das Abwägen von Konsequenzen und damit für eine ausgewogene Handlungsplanung zuständig.

Das heißt nicht, dass man in jüngerem Alter nicht „richtig“ denken könne. Aber logisch und analytisch denken auf der einen Seite und abgewogen, autonom denken auf der anderen Seite sind zwei unterschiedliche Aktionsweisen des Gehirns. Natürlich kann man auch mit 18 Jahren denken. Aber in diesem Alter wird das Denken noch sehr stark von der Amygdala bestimmt, einer Gehirnregion, die für emotionale Reaktionen zuständig ist, mit der Folge einer teilweise absurden Risikobereitschaft, eines hohen Antriebs bei mangelhafter Steuerung, mit stark emotional gefärbten Impulsen. Erst später übernimmt der Cortex und speziell der praefrontale Cortex die Kontrolle.

Die späte Reifung des praefrontalen Cortex ist das Eine. Dazu kommt, dass in der Jugend eine andere angeborene Eigenschaft eine große Rolle spielt, die Intensität der Sinnsuche, nach Religion, politischem Engagement, nach Wahrheit. Biologisch kann man diese Eigenschaft – wieder etwas vereinfacht – im linken oberen Scheitellappen verorten.

Erstaunlicherweise ist diese Region auch für die Verarbeitung von Sinneseindrücken verantwortlich. Und da die teilweise dem Willen unterworfen ist, kann man die Prozesse in diesem Bereicht bis zu einem gewissen Grad auch willentlich steuern. Das könnte erklären, weshalb bei der Meditation, im Gebet oder ähnlich „entrückten“ Zuständen das Bewusstsein des eigenen Körpers als eines von der Umwelt getrennten, von seiner Haut umschlossenen Körpers verschwindet, dass man im Nirwana aufgeht oder sich mit der ganzen Welt verbunden fühlt. Interessant ist auch die enge Verknüpfung dieser Region mit sozialen Dingen und mit Empathie.

Oder: Wenn ein Mensch in diesem Bereich „begabt“ ist, kann er nicht gleichgültig sein. Er MUSS nach der Wahrheit suchen, und wenn er besonders begabt ist, wird er, vielleicht sogar immer wieder, Übersinnliches erleben, beispielsweise Gott aus dem brennenden Dornbusch heraus hören und sehen. Er MUSS neugierig auf die Welt sein, und er muss auch die Fehler dieser Welt sehen, um sie zu korrigieren und damit die Welt zu verbessern.
Könnte es nicht sein, dass die jungen Kommunismus-Gläubigen Menschen waren, die ein relativ starkes Bedürfnis nach Religion, nach Sinn im Leben, nach einer alles ordnenden Ideologie, hatten – bei einem noch unfertigem Gehirn, das ihnen erst später ihre Grenzen aufzeigte? Könnten die Ergebnisse der Hirnforschung nicht wenigstens ansatzweise erklären, weshalb sich Bernard Langfermann vom uneigennützigen Helfer zum Verräter wandelte?

Es ist klar, dass man im Nachhinein jedes Verhalten irgendwie erklären kann, hier zum Beispiel mit einem Generationenkonflikt, mit dem Unrecht in der Dritten Welt und dem Vietnamkrieg, mit den Rassenunruhen in den USA, mit Familien- und Religionsersatz, mit Mitläuferschaft, mit einem Trend der Zeit damals, sehr weit links zu sein und auch damit, dass man es so ganz genau gar nicht prüfen und wissen wollte, weil man sich dadurch aus der Gruppe katapultiert hätte. Retrospektiv könnte man für jeden Menschen ein Profil erstellen, welche der Erklärungen für ihn mehr oder weniger zuträfe. Eine prospektive Erklärung scheint mir aber nur auf naturwissenschaftlicher Basis möglich.

Anhang: Fakten, die jedem „normalen“ Erklärungsversuch der absurden Begeisterung für den Kommunismus entgegenstehen

Existierte irgendwo auf der Welt eine kommunistische Regierung, die auch nur den geringsten Anlass zu einem bescheidenen Optimismus hätte geben können? Zeigten die Volksaufstände 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR nicht eindeutig, dass der Kommunismus ausschließlich brutale Diktaturen hervorbrachte? Konnte man den imperialistischen Charakter des Kommunismus nicht schon bei der Niederschlagung dieser Volkserhebungen erkennen?

Aber dieser Mangel an Erkenntnis beruhte im Normalfall ja nicht auf Dummheit, resultierte nicht aus einem Mangel an Intelligenz, aus einem zu niedrigen IQ.

Konnte man Marx lesen und dabei übersehen, dass aus Marx inzwischen ein Marxismus, dann ein Marxismus-Leninismus, dann ein Stalinismus und zuletzt ein Sowjet-Imperialismus geworden war? Und egal, wie man zum reinen Ökonomismus von Marx stand, der in seiner Philosophie viele anderen Wurzeln und Beweggründe menschlichen Zusammenlebens außer Acht ließ, egal, ob man Sprüche akzeptierte wie den, dass (nur) das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, und egal, ob man glaubte, die Thesen von Marx ließen sich vielleicht irgendwann einmal beweisen: Fest steht, dass weder Marx noch Lenin noch Stalin noch Ulbricht und Honecker je auch nur irgend einem Menschen etwas Gutes tun wollten. Im Gegenteil: Grundlage des Kommunismus weltweit – auch des heutigen in China – ist und war ein ganz bewusst eingesetzter Terror gegen Parteimitglieder und angebliche Konterrevolutionäre, gegen Kulaken und Ukrainer wie unter Stalin, gegen Freunde und mögliche Feinde der Partei, gegen jeden Verdächtigen und bisher Unverdächtigen, ein Terror, den nur Psychopathen akzeptieren können.

Jeder Arzt und jede Krankenschwester tun doch mehr für ihre Mitmenschen als alle Kommunismus- und Terrorismus-Gläubigen zusammen!

Verwundert fragt man sich: Kann man von einer Regierung nicht erwarten, dass sie nur das Beste für ihre Bürger will, dass sie bemüht ist, sie ausreichend zu ernähren, und dass sie sie nicht gleich foltert und ins Gefängnis wirft, wenn sie widersprechen? Muss es nicht das grundsätzliche Anliegen jedes Politikers sein, seinen Mitmenschen Gutes zu tun? Müsste er seinem Bedürfnis nach Macht nicht abschwören, wenn er erkennt, dass er seine Schutzbefohlenen nicht glücklich macht? Dass eine Regierung ganz bewusst Staatsterror einsetzt, hat doch mit menschlichem Leben und Zusammenleben überhaupt nichts mehr zu tun!

Kein früher vom Kommunismus Faszinierter kann jetzt sagen, das habe er nicht gewusst; ihn habe der Terror ja nicht getroffen. Aber jeder wusste das – nur nicht der Dumme oder der Verblendete oder wer sonst? Mit dem gesunden Menschenverstand oder irgendwelchen psychologischen Theorien lässt sich diese absurde Faszination für einen menschenverachtenden Kommunismus nie erklären.

Wenn man nicht irgendeine „Beschränktheit“ bei den Weltverbesserern von damals annimmt, ist auch nicht zu verstehen, dass sie gegen die Repression der eigenen Eltern und die der Professoren an den Universitäten rebellierten, sich dann aber einer viel rigideren Repression der verschiedenen kommunistischen Gruppen, der Maoisten, der Trotzkisten, des Spartakus-Bundes etc., unterwarfen: Dort durften sie erst recht nicht denken und diskutieren, was sie wollten; teilweise durften sie nicht promovieren; es gab Kleider- und Haar-Ordnungen; es gab Anordnungen, wie man sich dem Stalinismus gegenüber verhalten solle etc.; alles war orthodox vorgeschrieben. Wieso empfand man das nicht als Unterdrückung der Persönlichkeit?

Und es ist auch nicht nachvollziehbar, dass man in der Schule alles über die individuellen Menschenrechte gehört hatte, dass man dann aber Massenmörder wie Stalin oder Mao zu Idolen erhob.

Ich denke, diese Beschränktheit lässt sich nur auf der genannten naturwissenschaftlichen Basis erklären als temporäre Beschränktheit eines noch unreifen Gehirns.

Und was ist mit den Erwachsenen?

Das Phänomen eines absoluten Glaubens an den Kommunismus betrifft leider nicht nur Jugendliche. Wenn man überprüft, wann Erwachsene anfangen zu glauben und wann dieser Glaube zur Orthodoxie wird, wird man erstaunt feststellen, dass fast alle erwachsenen Kommunismus-Gläubigen schon als Jugendliche zu ihrem Glauben kamen. Und dann blieben sie dabei, auch wenn sich ihre Denk-Fähigkeiten längst verbessert hatten. Dieses Verhalten ist menschlich, schon weil es einfacher und ökonomischer ist, Vorurteile und früher gewonnene Einsichten beizubehalten anstatt die monatelangen Diskussionen, die Richtungskämpfe und alle Glaubensfragen dieser unruhigen Zeit noch einmal zu überdenken und neu zu sortieren.

Dass ein Mensch als Erwachsener noch Kommunist wird – vielleicht sogar einer, der dem Stalinismus oder der Kulturrevolution in China nachtrauert – , dürfte selten vorkommen. Es ist vorstellbar, dass ein unglücklicher Mensch, wenn er in einer kritischen Situation versagt hat, wenn er deshalb mit sich und der Welt hadert oder wenn sein Leben aus anderen Gründen aus den Fugen geraten ist, dass ihm dann der Kommunismus, dieser Irrweg der Geschichte, als Heilsbotschaft erscheint. Hier wäre dann aber Not oder vielleicht sogar Zwang die Triebkraft, nicht ein unabhängiger Verstand.

Mit dem abwägenden und alle Erfahrungen berücksichtigenden Verstand eines über 30-jährigen Erwachsenen wurde wohl niemand Kommunist.

Fazit

Verstehen wollen, sich Zusammenhänge erklären wollen, hat nichts damit zu tun, irgendetwas zu billigen oder gar zu entschuldigen. Jeder Mensch hat dafür einzustehen, was er getan oder veranlasst hat, unabhängig von einer juristisch feststellbaren „Schuld“. Der Verantwortung für sein Leben kann ein Täter aber gerecht werden, wenn er erkennt und bereut, was er anderen Menschen angetan hat, und wenn er deshalb – zum Beispiel mit einer Entschuldigung – auf diese anderen Menschen zugeht. Erst danach kann es auch zu einer Vergebung und Versöhnung – nicht nur zwischen Täter und Opfer, sondern auch zwischen Täter und Gesellschaft – kommen.

Die Beschränktheit der Wahrnehmung und der Beurteilung, die viele Menschen an den Tag legten, als sie sich vom Stalinismus, vom Maoismus oder von andere Spielarten des Kommunismus faszinieren ließen, kann man sich meines Erachtens nur auf naturwissenschaftlicher Basis, auf der Basis der aktuellen Hirnforschung, erklären. Da diese Beschränktheit aber temporär ist, kann sich jeder auch wieder lösen von seinen intellektuellen Fehlleistungen früherer Zeiten.

Politiker

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Man muss leider feststellen, dass die meisten Politiker der Bundesrepublik beim und nach dem Fall der Mauer wohlgemut ahnungslos waren. Da wurde zwar im Bundestag die Nationalhymne gesungen, aber ein Konzept für die neue Situation hatte niemand in der Schublade. Als sich in der Nacht vom 9. November 1989 abzeichnete, dass in der DDR irgendetwas passieren würde, haben die Parteien im Westen, allen voran die SPD, überlegt, was man tun müsse, um die DDR zu stützen, um Unruhen zu vermeiden!

Schon vorher, im September 1989, kurz nach der Öffnung der ungarischen Grenze für DDR-Flüchtlinge, schickte der Parteivorstand der SPD ein Blitztelegramm an die SED-Führung, dass er an der Aufrechterhaltung der Beziehungen zur SED festhalte und diese gegen Angriffe und Diffamierungen der CDU zu verteidigen gedenke. Die SPD werde weiter gegen die Destabilisierung der DDR und in Abgrenzung vom nationalistischen Wiedervereinigungspathos der CDU an der Existenz zweier deutscher Staaten festhalten. Diese Zweistaatlichkeit sei eingebunden in die von den Völkern gewünschte Nachkriegsordnung.

Joschka Fischer, unser späterer Außenminister, sagte am 27. Juli 1989: „Ein wiedervereinigtes Deutschland wäre für unsere Nachbarn nicht akzeptabel. Das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz wäre in seiner Konsequenz ein Unglück für das deutsche Volk.“

Und selbst, als die Mauer schon gefallen war, kämpfte die SPD noch gegen die Wiedervereinigung: Am 13. Dezember 1989 sagte Egon Bahr, der Schmied der früheren Politik eines „Wandels durch Annäherung“: „Unerträglich wäre Sonntagsrederei, wonach die Wiedervereinigung vordringlichste Aufgabe bleibt. Das ist Lüge, Heuchelei, die vergiftet, und politische Umweltverschmutzung.“ Solche Sprüche sind nicht nur im Nachhinein unverzeihlich, sie waren schon damals nicht verständlich, nachdem man bei vielen Ost-West-Gesprächen schlechte Erfahrungen gemacht hatte und der "Wandel durch Annäherung" und danach die "Annäherung durch Verflechtung" zu einer "Stabilität durch Anbiederung" verkommen war.

Und nach der "Wende", am 18. Dezember 1989, sagte Oskar Lafontaine (damals noch SPD): „Wiedervereinigung? Welch historischer Schwachsinn!“

Der Wunsch der CDU, einen Schlussstrich zu ziehen, möglichst viel unter den Teppich zu kehren, möglichst viele Menschen im deutschen Boot zu haben, d.h. auch, eine Aufarbeitung der SED-Diktatur zu verhindern, zeigte sich in den Beratungen zum Einigungsvertrag, in der Vorbereitung der Wiedervereinigung. „Teilungsbedingte Straftaten“ wurden explizit außer Verfolgung gestellt. Gemeint war damit zwar Spionage etc., aber der ganze Tenor des Vertrags geht dahin, auch das zum Recht gewordene Unrecht in der DDR zu sanktionieren. Ein Paragraph 213 im Strafgesetzbuch der DDR, nach dem eine „Republikflucht“ bestraft wurde, verstieß eindeutig gegen die Menschenrechte, vor allem gegen Artikel 12 - 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Da der Paragraph zwar galt, aber nicht gültig hätte sein dürfen, hätten sich alle Staatsanwälte und Richter, die nach diesem Paragraphen 213 angeklagt und verurteilt hatten, nach der Wiedervereinigung dafür verantworten müssen, und die „Macher“ des Gesetzes dazu. Diese Form einer konsequenten Aufarbeitung war aber nicht erwünscht. Der Einigungsvertrag zielte eindeutig nicht auf Aufarbeitung, sondern versuchte, möglichst alle weniger belastetenTäter und alle Mitläufer mit ins Boot zu  nehmen; die Opfer ließ man bewusst allein!

Ich widerspreche auch gern der Auffassung von Richard Schröder von 1993, „Es darf im vereinigten Deutschland nicht als anrüchig gelten, ein überzeugter DDR-Bürger gewesen zu sein. Es darf auch nicht anrüchig sein, „den Sozialismus“ unter den damaligen Umständen der Desinformation und Isolation für ein großartiges Menschheitsprojekt gehalten zu haben, das, wie die meisten heimlich hinzufügten, leider schlecht durchgeführt werde.“ Nein, der Sozialismus war von vornherein und für jeden wachen Menschen erkennbar so verbrecherisch, dass man schon eine gesteuerte Art von Dummheit haben musste, um das nicht zu erkennen. Und Dummheit ist in politischen Dingen nicht hinnehmbar oder verzeihlich.

Meine Empörung wird vielleicht verständlicher, wenn man im Ausspruch des Philosophen und Theologen Schröder einige Worte ändert: „Es darf im Nachkriegs-Deutschland nicht als anrüchig gelten, ein überzeugter Nazi gewesen zu sein. Es darf auch nicht anrüchig sein, „den Nationalsozialismus“ unter den damaligen Umständen der Desinformation und Isolation für ein großartiges Menschheitsprojekt gehalten zu haben, das, wie die meisten heimlich hinzufügten, leider schlecht durchgeführt werde.“

Das Handeln von Mitläufern kann man verstehen, aber nicht billigend hinnehmen. Jeder muss das, was er denkt und tut, verantworten, und das nicht erst im Jüngsten Gericht, sondern heute vor der Gesellschaft und der Geschichtsschreibung, auch die West-Politiker, die nicht Gerechtigkeit und Wahrheit im Sinn hatten, sondern nur irgendwie "über die Runden" kommen und wiedergewählt werden wollten.

Wenn die Bürger der DDR bei ihrer Selbstbefreiung nicht „Wir sind ein Volk!“ skandiert hätten, wären wir noch heute eine Konföderation zweier deutscher Staaten, und wenn Tausende von Bürgern nicht die Stasi-Zentralen in der ehemaligen DDR besetzt hätten, wären die Stasi-Akten großenteils vernichtet, in jedem Fall aber gesperrt worden. Dass Deutschland heute gelobt wird für seine Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur, ist ein Verdienst der Bürger, auf keinen Fall der Politik!

Für die anderen wohlgemuten Ahnungslosen, für die „Friedensschwärmer“, gilt Ähnliches. Paul Spiegel, der langjährige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte im Hinblick auf die Friedensmarschierer: „Man kann nicht a priori Nein zum Krieg sagen. Die Konzentrationslager wurden auch nicht von Friedensdemonstranten befreit, sondern von der Roten Armee.“ Das ist zwar nicht ganz richtig, weil auch die Amerikaner, die Briten und die Kanadier KZs befreiten, aber eben nicht mit Menschenketten und Luftballons, sondern mit Panzern und Soldaten.

Nein, Schlussstriche zu ziehen, ist nie gut. Es kann nicht angehen, Versöhnung zu predigen, solange die Täter darauf beharren, richtig gehandelt zu haben, als sie gewaltlos demonstrierende Menschen verprügelten und ins Zuchthaus warfen, als sie Menschen mit raffinierten Methoden, mit der „operativen Psychologie“, die an den Hochschulen der Stasi gelehrt wurde, zersetzten, als sie auf fliehende Menschen schossen und viele erschossen. Solange sie keine tätige Reue üben, kann ihnen kein Mensch, in wessen Namen auch immer, vergeben, die Kirchen nicht, die Politik nicht und auch nicht die Gesellschaft.

Dabei sehe ich nicht so sehr Schuld und Sühne im Vordergrund. Ich meine aber, dass jeder Mensch Verantwortung übernehmen muss für alles, was er denkt und tut. Auch wenn er verführt wurde zu seinen Verbrechen, bleibt die Verantwortung für seine selbst verschuldete Unmündigkeit und seine daraus resultierenden Taten bestehen, zumindest solange, wie den Opfern eine lebenswerte Unbeschwertheit weggenommen ist. Dieser Verantwortung müssen sich die vielen Täter mit tätiger Reue stellen, bevor man über Vergebung und Versöhnung sprechen kann!